Ein zweites Gespräch mit Renata Jocic, 2010.

Selbstverständlich beeinflusst das Aikido einen Übenden, beeinflusst es das Ich, aber ich bin der Meinung, dass dieses nicht nur auf der Tatami stattfindet …


Unser Gespräch findet im Dojo statt.

Vor einigen Jahren sprach ich mit Renata und Dragisa Jocic – wir veröffentlichten das Gespräch in den Ausgaben 30D – 32D des Aikido-Journals (der interessierte Leser kann dies unter www.aikidojournal.eu nachlesen). Im Oktober 2009 feierte die ACSA ihr vierzig-jähriges Jubiläum in Neuchâtel (Neuenburg) am gleichnamigen See. Ich war dort, um für das Aikido-Journal zu berichten und hatte mir auf der Galerie einen günstigen Ort zum Fotografieren gesucht. Dort traf ich Renata Jocic wieder, die ich zuvor sieben Jahren nicht gesehen hatte. Einer meiner letzten Interviewpartner, der Schweizer Georg Gallati, hatte sich zu den Umwälzungen in der ACSA nach der Erkrankung von Meister Ikeda geäußert: „Nachdem Meister Ikeda 2003 an Diabetes mellitus erkrankte, entstand in der ACSA ein Vakuum. Es waren starke Umtriebe zu spüren, wortstarke Retter priesen ungebeten ihre Hilfe an und es dauerte etwas, bis sich eine normale egofreie Verbandsarbeit durchsetzen konnte.“ Nun war ich neugierig, wie es ihr erging.


In ihrem Dojo in der Wylerstrasse in Bern trafen wir uns zu einem Gespräch. Meine ersten Fragen dienten zur Auffrischung der persönlichen Daten und ihrem Werdegang als Aikidoka.

„Renata, bitte erzähle unseren Lesern wie Deine Entwicklung in den Letzten Jahren verlief.“

„Eine Selbstdiagnose fällt mir schwer, das könnten eher meine jetzigen und früheren Lehrer beantworten … durch jahrzehnte langes Üben habe ich mich spürbar entwickelt. Selbstverständlich beeinflusst das Aikido einen Übenden, beeinflusst es das Ich, aber ich bin der Meinung, dass dieses nicht nur auf der Tatami stattfindet – denn das, was auf der Matte passiert, das nimmt jeder überall hin mit, denn ich bin überall ein Mensch, und zwar der gleiche Mensch. Auch nicht hier im Dojo ein Aikido-Mensch und draußen kein Aikido-Mensch. Ich gebe Dir ein Beispiel, in der vorletzten Ausgabe [58D +59D] hast Du jemanden interviewt, den Du mehrfach nach der inneren Arbeit fragtest. Die Person hat dann einen ‚dermaßen schweren Text’ heraus gelassen, dass, wenn man zwischen den Zeilen lesen kann, man klar erkennen konnte, wo dieser Mensch steht.“

In unserem Gespräch kommen wir schnell an den Punkt, an dem wir die häufige Darstellung des Egos diskutieren. Mein Einwand, dass fehlgeleitete Versuche der Selbstdarstellung leider allzu oft auf dem Rücken des Aikidos ausgetragen werden, fegt Renata kopfnickend, aber mit klaren Worten hinweg:

„Ich spreche für mich und auch für die Schüler, die hier ins Dojo kommen: ‚Dieses wird hier gelehrt. Darauf lege ich Wert.’ Am Eingang des Dojos endet zwar die Außenwelt – im Idealfall, aber der Mensch ist immer noch derselbe Mensch, der er auch draußen ist. Das Erlebte des Tages bringt er doch mit, dass kann er nicht im Eingangsbereich zurücklassen. Er muss lernen damit umzugehen. Das Verarbeiten dieser Emotionen, im Umgang mit den Anderen – das geht beim Üben mit Einigen, mit Anderen aber wieder nicht. Dies beeinflusst sein oder ihr Aikido. Ja, es definiert sogar eine Leistung. Eine Leistung muss her, ein Ziel muss her, ein Lernen muss her – man will ja etwas erfahren, etwas für die Gesundheit tun, Fitness erfahren. Eine breitgefächerte Palette, die jeder für sich erfahren und mitnehmen möchte – bereit für eine Bewusstseinsänderung. Das ist für mich nicht trennbar – vielleicht ist es trennbar, aber nicht für mich, jeder bleibt für mich ein Mensch, wie auch ich ein Mensch bin. Schlussendlich ist es egal, welchen Weg er geht, es muss kein Aikido sein, der Wert dieses Menschen ist maßgebend. Aber dazu muss er sich entscheiden. Diese Entscheidung ist prägend – dadurch ist eine Entwicklung möglich, nicht nur das Aikido ist prägend, vieles bildet einen Menschen.“

„In meinem Fall ist sicherlich die Entscheidung, Aikido professionell auszuführen ein schwergewichtiger Punkt; neben der Bereitschaft des Suchens – denn die Bereitschaft eines solchen Weges der Suche öffnet einen. Es ist sicherlich auch ein Hinweis, ein Zeichen, dass es nur wenige professionelle Aikidolehrer, vor allen Frauen gibt. Professionalität kann man nicht halb/halb ausführen, auch nicht missionarisch, oder wortreich – es verlangt, ja schreit nach innerer Stabilität, offener Suche und Ethik.“
Ich falle Renata ins Wort, denn das große Problem der Prüfungen im Aikido blitzt vor meinem inneren Auge auf.

„Meinst Du, dass Aikido überhaupt geprüft werden kann? Ich meine nicht Kyu-Prüfungen, sondern Prüfungen oberhalb Shodan.“

„Organisatorische Gründe spielen da natürlich mit hinein. Für mich ist eher die Frage wichtig, was ich mit ‚einem nächsten Schritt’ erreichen will. Das äußere Zeichen ‚die Prüfung‘ ist mir darin weniger wichtig, der Grad sagt wirklich nicht viel aus, aber der nächste Schritt: Bin ich bereit den nächsten Schritt zu tun, mit allen seinen Konsequenzen? Für mich als Lehrende stehen an erster Stelle Dinge wie die Vermittlung der Werte, ja, was sind eigentlich die Werte, und was ist Qualität – Werte und Qualität, nicht nur verbal, auch ein Vorleben dieser. Das ist ein Teil meines eigenen Weges, welcher der Weiterentwicklung in Verbindung mit dem Schüler unterliegt. Ob das auch geschieht oder gelingt, das obliegt anderen Faktoren. Problematisch ist der Zeitfaktor, denn leider können die meisten nur zwei- oder dreimal pro Woche ins Dojo kommen – nicht, dass sie deshalb weniger Bereitschaft haben, aber die Zeiträume zwischen den Prüfungen sind damit zu groß, zu weit auseinander gezogen, das Aufarbeiten leidet darunter. Letztendlich aber gehen wir einen gemeinsamen Entwicklungsweg – ich gehe nicht alleine voran, wie umgekehrt der Schüler sich nicht allein entwickelt. Ein Dojo entwickelt sich nur, wenn beide, Schüler und Lehrer, miteinander reifen. …

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